Faust oder das Recht zu wünschen

Ich gehe mit fünf Männern ins Theater. Die Gedanken, ob es komisch ist oder immer komisch sein muss, wenn eine Frau mit fünf jüngeren Männern ausgeht, habe ich erfolgreich verdrängt, als ich die Karten im Internet gekauft habe. Aber jetzt, wo ich mit ihnen auf der Straße stehe, sind sie wieder da und lassen sich nicht so einfach wegwischen. Ich muss über mich selber schmunzeln. Weglachen, das geht ein wenig besser.

Sie alle kennen sich von früher, von einem Notquartier, das im Herbst 2015 eingerichtet wurde und in dem ich damals einen spontanen Deutschkurs gehalten hatte. Den Kontakt zu ihnen habe ich danach nie so richtig abgebrochen und nun einfach sechs Karten gekauft, um ihnen ein Theater zu zeigen. Sie waren noch nie in ihrem Leben in einem Theater, und bestimmt gibt es dringendere Dinge für sie als „Die Leiden des jungen Faust“ zu sehen, eine moderne Inszenierung von Szenen aus Faust.

Auf dem Weg in die Stadt lese ich mir die Inhaltsangabe von Faust durch. In der Schule mussten wir Auszüge davon lesen. Es war damals todlangweilig, ich hatte aber auch später nie wirklich kapiert, warum diesem Stück eine so große Bedeutung in der Literaturgeschichte beigemessen wird. Nie würde ich es mir ansehen, wenn nicht Timo, der syrische Bursche, den ich seit etwa eineinhalb Jahren begleite, mitspielen würde. Aber jetzt bin ich gespannt und versuche also krampfhaft, mich für die Geschichte von Faust zu begeistern. Kilian Kleinschmidt, der jahrelang für die UNO verschiedene Flüchtlingslager geleitet hatte, hat einmal gesagt: „Jede/r Helfer/in hilft auch sich selbst.“ Diesen Satz hab ich sofort gut verstehen können. Ich habe das von Anfang an gewusst und gespürt, dass ich, wenn ich mich im Flüchtlingsbereich engagiere, anderen höchstens ein kleines bisschen helfe, und in viel größerem Ausmaß, ja eigentlich sogar in erster Linie mir selbst. Jetzt also mussten mir die Flüchtlinge helfen, Faust zu verstehen.

Das Stück beginnt und es zieht mich sofort in seinen Bann, denn es stellt die Frage, was an Faust für uns heute, in unserer Zeit, aktuell ist: Was sind unsere Wünsche? Was sind vor allem die Wünsche der Menschen in unserer Gesellschaft heute?  Die jungen Schauspieler auf der Bühne geben verschiedene Antworten. Einer nach dem anderen tritt vor ein Mikrofon. Es sind manchmal banale Dinge, dann wieder langjährige Träume oder unrealistische Phantasien, die sie sich wünschen. Ein Mädchen sagt: Ich möchte gern in Stöckelschuhen gehen können. Plötzlich geht auch Timo in die Mitte der Bühne zu dem Mikrofon. Timo, der, als der Krieg in Syrien begann, zunächst versuchte, sich durch das Anrauchen von Wasserpfeifen Geld zu verdienen und dann im Alter von vierzehn Jahren seine Familie verlassen hatte. Timo, der von seinem älteren, stärkeren Cousin getreten und geschlagen wurde, als er völlig auf sich allein gestellt war. Timo, den seine Mutter noch bis zur Grenze der innerstaatlichen Zone begleitet hatte und die dann den Soldaten nicht zeigen durfte, dass sie weinte, damit sie ja nicht ahnen konnten, dass er womöglich für immer weg ging. Timo, der auf seiner Flucht mit den Kämpfern des IS verhandeln musste, damit sie ihn weitergehen ließen und schließlich von ihnen verschont wurde, bis auf dass sie ihm die Haare abrasierten; der das unbekannte dreijährige Mädchen, dem man Beruhigungsmittel gegeben hatte, damit es die Flüchtenden nicht verrät, stundenlang durch den Wald getragen hatte; und der schließlich in einem der winzigen Schlauchboot die gefährliche Fahrt übers Meer von der Türkei nach Griechenland geschafft hatte. Nach dieser langen Reise und viel zu kurzen Kindheit, die durch den Krieg jäh unterbrochen wurde, geht er jetzt in die Mitte der Bühne und sagt: „Ich möchte nicht alleine sein.“

Mir bricht das Herz, und ich bin froh, dass ich nicht alleine im Theater bin, dass es Zeugen gibt. Es ist völlig egal, ob die fünf Männer neben mir dieses Theaterstück verstehen oder nicht. Sie alle sprechen nicht besonders gut Deutsch, aber es ist gut genug, um diesen klar ausgesprochenen Satz eines jungen syrischen Mannes zu verstehen und zu sehen, dass ein paar hundert Leute im Saal, auf den Balkonen, am ersten Rang und auf der Galerie, Männer und Frauen, diesem Satz lauschen. Es hat sich jetzt schon gelohnt. Vielleicht auch, weil sie sehen, was Theater ist und was Theater sein kann. Ein Ort, an dem Sehnsüchte ausgesprochen werden können.

Und gleich nach Timo kommt ein wohlerzogener Gymnasiast und erklärt, dass er nichts wünscht, weil er alles hat und ihm schon immer alle Wünsche erfüllt wurden und er daher nichts begehrt und einfach sein Leben genießt. Später ist Timo der Amor, er schwebt mit weißen Engelsflügeln über die Bühne, er darf tanzen und umarmen. Transvestiten treten auf und Liebessehnsüchte werden beteuert. Ich bin gebannt, aber noch viel gebannter verfolgen die afghanischen Männer das Schauspiel und es gelingt, was ganz selten gelingt, dass sie vergessen, lachen, sich überraschen lassen, staunen und sehen, was alles möglich ist und wie breit und weit das Leben sein kann. Ich weiß, dass es auch egoistisch von mir ist, ihnen diese Breite und Fülle zu zeigen, mein Leben, unser Leben hier, denn sie sind diejenigen, die nichts haben, und es ist alles noch ungewiss: Werden sie hier bleiben dürfen? Werden sie Arbeit finden und sich hier wohlfühlen? Ich bin diejenige, die noch am selben Abend nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren kann und alles hat. Es ist wieder einer dieser Widersprüche, denn trotz dieser Diskrepanz und dieser Kluft, die zwischen unseren Leben liegt, spüre ich von ihnen großen Respekt mir gegenüber, auch echte Dankbarkeit. Ein Gefühl, dass sie mich sehr schätzen. Vielleicht ist es gerade wegen dieser Ehrlichkeit, mit der ich versuche, auf sie zuzugehen. Und vielleicht schweißt uns dieses gemeinsame Fühlen auch irgendwie, über alle Gegensätze hinweg, zusammen.

Es wird ein wunderschöner Abend, über den ich mich noch lange freue, als wir später gemeinsam essen gehen, und ich ihnen ein wenig über die Geschichte von Faust erzähle. Nur Jusafa, der Englischlehrer aus Syrien, der sehnsüchtig darauf wartet seine Frau und seinen jungen Sohn aus Rakka nachholen zu können, ist nachdenklich traurig. Ich sehne mich so sehr nach meiner Familie, meint er, und darüber hinaus, ich, der ich hier in Sicherheit bin, habe ich überhaupt das Recht mir noch etwas anderes zu wünschen, als dass ich meine Frau und mein Kind irgendwie, irgendwo auf dieser Welt wiedersehen kann? Ich habe sonst keine Wünsche, sagt er mir. Und wenn ich andere Wünsche verspüre, komme ich mir entsetzlich schlecht vor. Darf ich noch andere Wünsche haben?

4 Gedanken zu „Faust oder das Recht zu wünschen

  1. Martina Schuster

    Danke Veronika. Immer wieder gelingt es dir, zu berühren. In direkter und unmittelbarer Begegnung, im Fragen, durch deine Gedanken, in deinen Zeilen. Danke und BIG HUG Martina

    Von meinem iPad gesendet

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  2. barbara1403

    Wieder triffst du mit deinem Bericht ins Volle. Zielgenau. Es sind viele deiner geäusserten Gefühle und Gedanken so gut nachvollziehbar da ähnlich erfahren, so viele Eindrücke begreiflich und nachvollziehbar artikuliert. Danke fürs Teilhabenlassen.

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